Revanche

1. KAPITEL

„Na, so früh unterwegs?“
„Siehst du doch! Idiot.“
Uschi kettet das Rad an die Eisenstange. Den Typen hat sie hier noch nie gesehen. Irrer Blick. Raucht und schnippt dann den Stummel ins Gras.
Es ist sieben. Wie jeden Morgen kauft Uschi auch heute vor dem Unterricht noch rasch ein Getränk beim Billa. Eistee Zitrone. Sie überlegt, was heute in der Schule auf sie zukommt. Mathe, Geschichte, Deutsch. Auch das noch. Schulhausroman steht auf dem Plan. Ein Roman! Als ob sie keine anderen Sorgen hätten.
„Soll ich auf dein Rad aufpassen, Kleine?“
Dieser Typ steht schon wieder neben ihr. Am liebsten würde sie sagen: Zieh Leine – aber er sieht so aus, als ob man sich besser nicht ihm anlegt.
„Das Rad passt auf sich selbst auf“, sagt Uschi.
Und dann geht alles ganz schnell.
„Rapunzel“, sagt der Typ, „lass dein Haar – “
Er fährt ihr einfach mit seinen dreckigen Pfoten durch die Haare. Der hat wohl nicht alle Tassen im Schrank. Sie stößt seine Hand weg. Sieht sich panisch um. Niemand da, der ihr helfen könnte. Der Park vorm Supermarkt ist leer, nur hinten bei den Bänken sitzen ein paar Typen mit Bier-flaschen in der Hand. Mit denen hat sie lieber nichts zu tun, wahrscheinlich sind das die Freunde von diesem Typen.
Sie bereut bereits, zum Billa gefahren zu sein. Besser, sie hätte das Getränk beim Bahnhof aus dem Automaten gezogen. Am Bahnhof ist wenigstens immer was los. Meistens trifft sie dort Schulfreunde. Natürlich ist es auch ein wenig laut, vor allem, wenn die Züge bremsen. Doch daran hat sie sich schon gewöhnt. Und das Beste aber am Bahnhof ist: Wann immer sie nach Hause oder in die Stadt will, braucht sie nur in Bus oder Zug einsteigen. Das gibt ihr ein Gefühl von Unabhängigkeit. Bis sie den Führer-schein machen kann, dauert es ja noch eine Zeit lang.

Wenn sie ehrlich ist, muss sie zugeben, dass sie jetzt gern ein Auto hätte. Sie könnte einsteigen und die Zentral-verriegelung betätigen. Dann wäre sie in Sicherheit.
Jetzt packt dieser Typ sie auch noch am Arm. Uschi versucht, sich loszureißen.
„Ey, lass mich!“, ruft sie.
„Nana, wer wird sich denn gleich so aufregen“, sagt der Typ. Er grinst.
Zuerst war Uschi wütend, jetzt bekommt sie es doch ein wenig mit der Angst zu tun. Was, wenn er sie nicht in Ruhe lässt?
„Loslassen, Marco, sofort!“
Sie hatten ihn beide nicht gesehen, den Burschen, der plötzlich neben ihnen steht. Er reißt den Typen von ihr weg, als wär’s das Selbstverständlichste der Welt. Damit hatte Marco offenbar nicht gerechnet, die Überraschung steht ihm ins Gesicht geschrieben.
„Ist ja schon gut, keine Aufregung“, sagt er und trottet zurück zu seinen Freunden, die ihn johlend begrüßen.
„Na, der hat aber schnell aufgegeben“, sagt Uschi. Kein Wunder, denkt sie bei sich. Ihr Retter ist schließlich mindestens einen Kopf größer als der Trottel.
„Danke“, sagt sie. Und lächelt. „Hab ich dich nicht schon einmal irgendwo gesehen?“
„Ich bin Raffael“, sagt der Bursche. „Arbeite drüben im Ankara.“
„Uschi“, sagt Uschi und atmet tief aus. „Danke, dass du mir geholfen hast.“
„Keine Ursache“, sagt Raffael. „Sag mal, dieser Typ da, bedrängt er dich oft?“
„Den hab ich heute das erste Mal gesehen! Ich hoffe, es war auch das letzte Mal.“
„Er kommt oft ins Ankara und macht dort Unsinn. Hab ihn schon ein paar Mal rausgeworfen. Ein Idiot. Gewalttätig ist er auch.“
„Ach, dann kennst du ihn ja“, sagt Uschi.
„Leider“, seufzt Raffael.
Das letzte Mal, als er ihn aus dem Ankara schmiss, hat Marco richtig randaliert. Wollte einen Döner haben, aber dafür nicht zahlen. Hat die anderen Gäste beleidigt, dann sogar einen Stuhl zertrümmert. Als er einem Mädchen den Kebap aus der Hand geschlagen hat, war’s endgültig vorbei mit Raffaels Geduld.
Marco ist arbeitslos, angeblich sogar drogenabhängig. Lebt in einer kleinen Wohnung, die er kaum bezahlen kann. Ist tätowiert und gepierct. Schlechte Kindheit natürlich auch. Aber deswegen muss man nicht gleich zum Verbrecher werden.
„Er hat sogar eine Vorstrafe wegen Vandalismus“, sagt Raffael zu Uschi. „Halte dich von ihm fern.“
Dann sieht er sie plötzlich so komisch an. „Sag mal, gehst du noch zur Schule?“
„Ins Poly. Danke, dass du mich erinnerst. Ich muss jetzt los!“
„Klar. Vielleicht hast du mal Lust auf einen Döner?“
Uschi lacht. „Ich hoffe aber, dass Marco nicht im Ankara ist, wenn ich vorbeikomme.“
„Keine Sorge“, sagt Raffael und begleitet sie bis zum Eingang des Billa.
So ein gut aussehender Bursch, denkt Uschi, als sie durch die Getränkeabteilung streift. Und so selbstbewusst. Das gefällt ihr.

 

2. KAPITEL

Wenn Raffael ehrlich ist (und er bemüht sich, es möglichst oft zu sein), dann arbeitet er gern im Ankara. Er mag den Geruch von Gemüse, Salat und Fett, das den Dönerspieß hinunter läuft. Das erinnert ihn an Urlaub. An Sonne, Meer, den ganzen Tag faulenzen. Freilich muss er im Ankara auch arbeiten. Doch alle haben gute Laune. Dass die türkischstämmigen Angestellten die Bestellungen mit Freude entgegennehmen, hat ihm von Anfang an gefallen. Das ist auf jeden Fall besser als Schule.

 

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